Leseprobe aus „Schlesisches Tagebuch“

Breslau, 20. 01.1945

....Als ich heute morgen über die Kaiserbrücke fuhr, sah ich die Sonne aufgehen, wie ich sie noch nie gesehen habe: eine dunkelrote, strahlenlose Scheibe im blassen Grau. Schön und unbarmherzig zugleich. In der Straßenbahn war niemand besonders unruhig. Auf den Straßen war Leben, aber ich dachte an nichts Besonderes. Wir wußten wohl von einer Gefahr, seit dem Angriff russischer Flieger auf Brockau und Teile von Breslau am Donnerstag. Aber das gehört dazu, wenn die Front näher rückt. Wie nahe kann sie wohl rücken, fragte man sich. Antwort gab man sich, wie man es wünschte: Bald kommt der Vormarsch zum Stehen. Doch dahinter kamen Gedanken. Wenn er nun nicht zum Stehen kommt....Und ist den Russen nicht seit Stalingrad jeder Vormarsch geglückt?
Ich hasse diese Zeit wie ich die Männer hasse, die sie herbeigeführt haben. Die Besten unseres Volkes jagen sie in den Tod, Frauen und Kinder lassen sie kaltblütig unter dem Bombenhagel verbluten und verbrennen. In den Zeitungen aber steht von der „Front der starken Herzen“, dem „unerschütterlichen Kampfwillen“, Reichsminister Goebbels schreibt jeden Freitag seinen Artikel, und der Führer „ist zuversichtlicher als je“.
Haben wir immer noch nicht genug ausgehalten? (Wobei ich von mir gar nicht reden will, denn wirklich, es ist mir noch nicht viel geschehen). Aber soll denn Deutschland zerschlagen werden, weil ein fanatischer Narr und seine Helfershelfer es so wollen?.
Ich hasse, hasse, hasse sie.

Es geht das Gerücht, die rechte Oderseite müsse geräumt werden, also Bischofswalde auch. So weit schon? Dann hieß es wieder: nein, nur das rechte Oderufer allgemein wird evakuiert, also die Dörfer und Städte auf der drübigen Seite. Da ist Inge auch aus Trachenberg weg – hoffentlich. Die Partei wird nun mal beweisen müssen, wie sie diese „Lage meistert“. Ich bin neugierig, aber noch mehr in Sorge...
Es ist doch richtig. Eben ruft Walter an, die Stadtteile am rechten Oderufer müssen räumen. Das bedeutet doch unmittelbare Gefahr für Breslau! Ich fahre sofort nach Hause und sage der Muttsch bescheid.

(abends)
Und nun ist ein kurzer Tag vorbei und vielleicht ein langes Leben. Nicht denken, nur nicht denken! Liebes kleines grünes Haus in Bischofswalde, ein Viertreljahr Glück hast du mir geschenkt; das ist nun vorbei, und ich fühl's: für immer.
Ich fuhr nach Hause, packte ein paar Koffer und machte mich auf Walters und Immes Einladung auf den Weg zur Oranienstraße. Das meiste Gepäck – viel war es sowieso nicht – und die Muttsch ließ ich noch in Bischofswalde, um am nächsten Nachmittag noch einmal hinzufahren. In der Oranienstraße machte Imme auf, mit Tränen in den Augen. Walter kam auch gleich; sie hatten Zugplätze durch die NSV bekommen, und Imme mit den Kindern konnte fahren, nach Dresden, wo ja vorläufig Sicherheit ist. Auch die Bomber waren noch nicht ernstlich dort, und hoffentlich bleibt wenigstens diese schöne, geliebte Stadt verschont...
Durch die Nacht hört man Räder rollen. Das sind die Trecks von der rechten Oderseite. Den ganzen Tag ohne Unterlaß fahren sie durch die Stadt. Es ist ein furchtbares Bild. Die Gesichter der Menschen sind starr vor Kälte und Entsetzen. Die Augen sind leer. Einen ganzen Tag, eine lange Nacht, ohne Unterlaß...

18.1.1946 (1/2 6 Uhr früh)

Das Mondlicht glitzert silberkalt,
auf starren Feldern gleißt der Schnee,
und eisverzaubert steht der Wald…
Mir tut das Herz so bitter weh.
Mir tut das Herz so bitter weh,
als risse eine starke Hand
es aus der Brust und würf es jäh
hinaus ins eiserstarrte Land.
Ins eiserstarrte Land hinaus,
ins silberkalte Mondenlicht,
da friert es, sucht und will nach Haus
und findet seine Heimat nicht.

Heute vor einem Jahr begann die Not; die Woche, die nun folgt, ist für mich wie eine Passionswoche, jeder Tag ein Schmerz bis zum letzten, bittersten, dem „Lebewohl“. Ein Jahr ist jetzt vergangen, oder waren es zehn Jahre? Bin ich nicht so alt und müde geworden, als ob es wirklich zehn Jahre wären?
Am 18. 1. 1945 in der Abendstunde gab es Fliegeralarm. Die Muttsch und ich hatten gerade Abendbrot gegessen und waren in der kleinen Küche in Bischofswalde beim Abwaschen. Wir öffneten die Fenster wie üblich und machten uns „kellerfertig“. Da schoß schon die Flak, und im Osten fiel die erste Leuchtkugel, und gleich darauf stand taghell der „Weihnachtsbaum“ am südöstlichen Himmel. Muttsch fand das so schön, dass sie nicht vom Fenster wegwollte. Aber unsere Leerbeuteler Flak schoß so wild, dass man Splitter fürchten musste, und so rief ich sie dringend weg, und wir saßen dann im Keller.
Eigentlich war es gar nicht so schlimm; Und im Vergleich zu den Angriffen der Engländer und Amerikaner war es direkt harmlos.. Aber -  es war der Auftakt, und man wusste, nun wird es bitterernst
Zwei Tage später war der bittere Ernst schon Tatsache, und was nun folgte, schrieb ich ja vor einem Tag in mein Tagebuch. Eins weiß ich, nie werde ich die Not der „Passionswoche“ .vergessen, niemals. Selbst wenn ich - kaum denkbar  -  noch einmal glücklicher werden sollte, wird die Erinnerung daran wie ein schneidendes Messer durch meine Seele gehen. Aber  - Gott allein weiß es - vielleicht muß das alles sein, damit aus mir ein Mensch wird?  Wie das Schicksal das mit mir vorhat, weiß ich nicht. Ich glaube nur eins: Es ist kein Zufall, was mit uns geschieht. Es fügt sich ein in das Weltgeschehen, es geschieht so, weil es so geschehen muß. Wie wir hindurchkommen, wissen wir nicht. Gott allein weiß es.

Der Wolken , Luft und Winden
gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden,
da dein Fuß gehen kann.